Im Schatten des Berges Ararat
Fast jeder Satz, den Narine Derian ins Mikrofon spricht, enthält die Wendung «Wir Armenier». Sie ist Mitte 40, hat lange, schwarze Haare und spricht Deutsch, als hätte sie in Deutschland gelebt. Doch Narine – «bitte, sagt doch Du» – hat die Sprache in Armenien studiert. Und ja: Die Reiseführerin ist unglaublich stolz auf Armenien und die Armenier. Gerne zählt sie auf, wer armenische Wurzeln besitzt. Die Liste ist lang und reicht von Sängerin Cher über Tennisikone Andre Agassi und TV-Celebrity Kim Kardashian bis zum Physiker und Nobelpreisträger Andrei Sacharow. Nach Letzterem ist in der Hauptstadt Jerewan ein Platz benannt worden.
Von der Aussichtsplattform zeigt Narine in eine Richtung. Und weist auf einen Betonbau gleich in der Nähe hin. «Dort wohnt Aznavour.» Charles Aznavour, der französisch-armenische Chansonnier und Vertreter Armeniens bei der UNO, hat eine Villa gleich neben dem Wahrzeichen des modernen Jerewan gebaut, der Kaskade. Diese besteht aus Hunderten weissen Treppenstufen, die pyramidenartig auf den Hügel führen und das Sonnenlicht reflektieren. Im Innern des Bauwerks führen Rolltreppen nach oben. Ein Museum für zeitgenössische Kunst und ein Museumsshop sind hier auch noch untergebracht.
Die Liste, wer armenische
Wurzeln hat, reicht von Sängerin
Cher über Tennisikone Andre
Agassi und TV-Celebrity Kim
Kardashian bis zum Physiker und
Nobelpreisträger Andrei Sacharow.
Von der Aussichtsplattform überblickt man ganz Jerewan. Breite Boulevards, Tuffstein in zahlreichen Schattierungen und ein Park, der sich rund um das Zentrum zieht, prägen das Stadtbild. Dahinter erhebt sich majestätisch der heilige Berg Ararat mit seinen 5137 Meter Höhe. Auf der Kaskade findet sich eine der weltweit verbreiteten «Love Sculptures» des Pop-Artisten Robert Indiana – in Gold-Blau. Ein armenisches Paar steht daneben. «Can you please take a picture of us?» Die jungen Armenier sprechen nebst der Landessprache meist auch Englisch, fast alle können Russisch. Bereits die Kinder lernen die drei verschiedenen Alphabete in der Schule – nicht selten sind auch die Geschäfte in der Hauptstadt in den unterschiedlichen Sprachen angeschrieben.
Abends, auf dem Platz der Republik, wähnt man sich in einer Metropole am Mittelmeer. Ein kühler Wind sorgt für angenehme Temperaturen; es riecht frisch und würzig. Die Hay, wie die -Armenier sich selber nennen, flanieren über die Pflastersteine, Kinder rennen kreischend herum, junge Iranerinnen lassen das Kopftuch von den Schultern gleiten und sich vor dem grossen Brunnen fotografieren. Wasserfontänen tanzen zum Titelsong aus dem Liebesfilm «Dirty Dancing», dann zu einem armenischen Popsong und wechseln dabei die Farben.
In der einstigen Genossenschaftszentrale, einem der wuchtigen Bauwerke aus Sowjetzeiten am Platz der Republik, sind mittlerweile eine Bank und das Hotel Marriott untergebracht. Auf der Terrasse sitzt ein russisches Paar vor leeren Tellern und einem Glas Brandy, wahrscheinlich der lokalen Marke Ararat. Die Strassen sind sauber, die Menschen zuvorkommend und hilfsbereit. Alles wirkt liebevoll geputzt, restauriert, präsentiert. Doch wirft man tagsüber einen Blick in einen Hinterhof, lässt sich erahnen, wie arm die Mehrheit der Bevölkerung noch immer sein muss.
Vom einstigen Grossreich mit
Blütezeit im ersten Jahrhundert
vor Christus ist ein verarmter
Kleinstaat mit 3 Millionen
Einwohnern übrig geblieben.
Die Armenier sind ein Volk mit einer langen und traurigen Geschichte. Vom einstigen Grossreich mit Blütezeit im ersten Jahrhundert vor Christus, mit zehnmal grösserem Staatsgebiet, ist ein verarmter Kleinstaat mit 3 Millionen Einwohnern übrig geblieben. Eine Million lebt in der Hauptstadt Jerewan. Über zehn Millionen Menschen armenischer Herkunft sind über die ganze Welt verstreut. Das Geld, das die Diaspora in die alte Heimat schickt, finanziert einen Grossteil der Prestigebauten, Kirchen und Restaurationen im Land.
Auch im Mesrop-Maschtoz-Institut für alte Manuskripte, genannt Matenadaran (armenisch für Bibliothek), werden Restaurationen vorgenommen. Im imposanten Sowjetbau in Jerewan findet sich ein einzigartiger Schatz: eine Sammlung historischer Handschriften, die grösste auf dem Globus, Unesco-Weltkulturerbe. Über 20'000 Manuskripte werden hier erforscht, restauriert und zunehmend auch digitalisiert. 130 Wissenschaftler aus der ganzen Welt arbeiten im Institut.
Dass es gerade in Armenien eine
derart grosse Sammlung
mittelalterlicher Schriften gibt,
kommt nicht von ungefähr:
Armenien ist der älteste
christliche Staat der Welt.
So auch Anahit Keshishyan, auch sie Armenierin, auch sie ungemein stolz auf ihr Land und dessen Kulturschatz. Während sie durch die hallenartigen Räume führt, zeigt sie auf ein uraltes Buch in einer Holzvitrine – eine Bibelausgabe, in der jede Seite mit farbigen Motiven verziert ist. «An jeder einzelnen Seite wurde wochenlang gearbeitet», erzählt die ausgebildete Archäologin. Die Buchmalereien sind derart schön, man könnte sie stundenlang betrachten. Das Ergebnis akribischen Wirkens, das mehrere Mönche in Arbeitsteilung vollbrachten. Ausser Bibeln finden sich hier aber auch Bücher mit euklidischer Geometrie, Pflanzenkunde oder apologetischen Schriften.
«Wir retten diese Werke vor dem Zerfall», erklärt Keshishyan. «Wir verändern sie nicht, wir konservieren sie in dem Zustand, in dem sie gerade sind.» Alle drei Monate würden die ausgestellten Exemplare ausgetauscht, damit sie keinen Schaden nehmen. Dass es gerade in Armenien eine derart grosse Sammlung mittelalterlicher Schriften gibt, kommt nicht von ungefähr: Armenien ist der älteste christliche Staat der Welt. Bereits um 100 nach Christus wurde es christianisiert, je nach Quelle deklarierte man das Christentum 304 oder 314 zur Staatsreligion.
Der Genozid ist allgegenwärtig in
Armenien, das Trauma nicht
überwunden.
Eine der wertvollsten Schriften wiegt 28 Kilogramm, umfasst 640 Seiten – und wurde im Verlauf der Jahrhunderte zweigeteilt, bis die beiden Teile hier wieder zusammenfanden. Ein Teil war zeitweise in der Erde vergraben. Eine Frau auf der Flucht vor dem Genozid vor 100 Jahren hatte nicht mehr die Kraft, ihn weiterzutragen. «Diese schlimme Geschichte zeigt auch, wie stolz wir Armenier auf unsere Kultur sind», sagt Keshishyan. «Selbst in Anbetracht der grössten Gefahr retten wir vor allem unsere Kulturgüter.»
Nur noch rund 10 Prozent des einstigen Kulturguts sind vorhanden. Der Genozid ist auch heute noch allgegenwärtig in Armenien, das Trauma nicht überwunden. Das Osmanische Reich liess bis zu 1,5 Millionen Menschen vernichten, unzählige wurden vertrieben – einer der Hauptgründe dafür, dass die Armenier derart über den gesamten Erdball verstreut leben.
Auch vom Eingang des Matenadaran sieht man den Ararat, er wirkt fast zum Greifen nah. Der Berg ist das Symbol der Armenier, findet sich auf Banknoten, in Weinnamen und im Wappen aus der ¬Sowjetunion. Doch der heilige Berg, auf dem einst Noah mit der Arche gestrandet sein soll, steht längst auf türkischem Boden, die Grenze zur Türkei ist geschlossen. «Als Gott die Welt erschuf, hatte er noch ein Paar Steine übrig. Er liess sie über die Ebene fallen; daraus wurde Armenien», erzählt Narine. Man wird den Eindruck nicht los, dass Gott auch später mit Steinen auf das Land ¬gezielt hat.
Sarah Berndt
@tagesanzeiger