Tour durch Armenien: Noahs Arche und Gottes Hammer
Kaum ein Volk hat eine tragischere Geschichte hinter sich als die Armenier. Und kaum eines verteidigt so inbrünstig seine Identität wie die älteste christliche Nation der Welt: unterwegs in einem Land zwischen Himmel und Hölle, das niemanden gleichgültig lässt.
Hier also ist aller Anfang: in diesem klaustrophobischen Schacht mit seiner sechs Meter tiefen Höllenleiter, die wir jetzt hinabklettern, wie ein Verdammter in der Unterwelt verschwindend, Schultern und Ellenbogen am Tuffstein scheuernd, so eng ist es in diesem Schlund. Dann stehen wir unten, in einer Gruft, in der Grabkammer eines Lebendigen, und sehen eine betende Frau vor einem steinernen Kreuz, auf die Knie gesunken, in sich versunken, so fern von allem Irdischen, als sei die Zeit der Welt längst abgelaufen. Hier unten also war der heilige Gregor der Erleuchter dreizehn Jahre lang gefangen und überlebte nur dank der Barmherzigkeit eines Mütterchens, das Brot und Wasser zu ihm herab ließ. Oben massakrierte derweil der König von Armenien drei Dutzend Missionarinnen, wurde als Gottes Strafe siech, holte in seiner Verzweiflung den Erleuchter aus dem Loch, erfuhr wundersame Heilung, bekehrte sich zum rechten Glauben und machte aus seinem Königreich das älteste christliche Land der Welt. Das war im Jahr des Herren 301.
Wir halten es keine drei Minuten in Gregors Gruft im Kloster Chor Virap aus, fliehen in die Freiheit, japsen nach Luft und atmen tief durch beim weiten Blick auf den Ararat, der hier zum Greifen nah und doch unendlich fern ist. Denn der heilige Berg der Armenier, der sich so unvermittelt aus seiner Ebene erhebt wie ein kaukasischer Kilimandscharo, liegt zehn Kilometer jenseits der Grenze zur Türkei, im Feindesland der Völkermörder, wie die halbe Heimaterde für immer verloren, ein 5137 Meter hohes Sehnsuchtssymbol der Tragödie des armenischen Volkes. Alle seine Angehörigen, die Einheimischen und die aus der Diaspora, machen an diesem Wallfahrtsort des nationalen Stolzes und Schmerzes ein Erinnerungsfoto von sich und dem Ararat und verlassen dann schweren Herzens das Kloster, während wir noch ein wenig über den verlassenen Friedhof in seinem Schatten schlendern wollen - um von unserem erschrockenen Führer sofort zurückgepfiffen zu werden, vor Vipern wimmele es dort, akute Lebensgefahr, raus da, aber schnell! Welche Ironie des Schicksals, denken wir, dass ausgerechnet auf einem Friedhof der Tod den Lebenden auflauert, ausgerechnet in Gestalt von Schlangen, die wie die ewigen Sieger der armenischen Paradiesvertreibung hier perfide ihren Triumph auskosten.
Augapfel der eigenen Identität
Es gibt kaum ein Volk mit einer tragischeren Geschichte als die Armenier, die nicht nur geologisch, sondern auch weltpolitisch schon immer ein Opfer der Tektonik gewesen sind - heimgesucht von fürchterlichen Erdbeben auf der Kollisionskante der Arabischen und Eurasischen Platte, verwüstet, versklavt, verbrannt von der Großmachtgier ihrer Nachbarn, deren Spielball sie seit drei Jahrtausenden sind. Für Perser und Römer, Araber und Mongolen, Seldschuken und Usbeken, das Osmanische und das Zarenreich, die Jungtürken und die Sowjets war das Land immer nur leichte Beute, menschliche Manövriermasse, das grausamste aller Schicksale, das sieben der zehn Millionen Armenier in die Diaspora getrieben hat. Heute leben sie verstreut auf allen Kontinenten, doch ihre Heimat im südlichen Kaukasus tragen sie alle in Herz und Seele wie einen unvergänglichen Schatz.
Ein uraltes Land ist Armenien, und seine Hauptstadt Eriwan ist eine der ältesten, noch immer bewohnten Siedlungen der Menschheitsgeschichte, neunundzwanzig Jahre älter als Rom, wie ihre Bewohner mit trotzigem Stolz jedem Besucher verkünden, und noch dazu nicht mit einer dubiosen Legende, sondern mit einer richtigen Geburtsurkunde in Gestalt einer uratäischen Keilschrift aus dem Jahr 782 vor Christus ausgestattet. Doch die Geschichte ist in Eriwan ein Opfer der Geschichte geworden. Kaum eine Handvoll Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert hat die Stürme der Zeiten überlebt, alles andere ist längst zerstört - bis auf die alten Handschriften, die man leichter als Paläste vor den Feinden verstecken konnte und die jetzt in einem Pantheon von Museum wie der Augapfel der eigenen Identität gehütet werden. Schon zu Beginn des fünften Jahrhunderts fixierten die Armenier ihre Schrift mit sechsunddreißig Buchstaben, die sich bis heute kaum verändert hat und neben dem Christentum die wichtigste Konstante ihres wechselvollen Schicksals ist. Kunstvoll illustrierte Evangelarien und kolossale Bücher aus den Häuten von siebenhundert Kälbern werden hier wie Reliquien präsentiert, dazu das „Buch der Klage“ aus dem zehnten Jahrhundert, die zweitwichtigste Schrift für die Armenier nach der Bibel, in dem die Ungerechtigkeit der Welt angeprangert wird. Und wer könnte dieses Lied besser singen als dieses Volk?
Sozialistisches Pathos und oligarchischer Protz
Tritt man aus dem Museum, wird man von der Geschichte brüsk in die Gegenwart einer kaum hundert Jahre alten Reißbrettstadt geschleudert, deren Zentrum fast vollständig aus rosafarbenem Tuffstein in einer armenisch-sozialistischen Variante des Neoklassizismus errichtet wurde. Es ist gewiss nicht die größte architektonische Schandtat der Sowjetunion, die sich Armenien 1922 als kaukasisches Dessert einverleibte, sondern eine Stadt mit menschlichem Maß, leuchtend wie ein Rosenstrauß, verschwenderisch mit Parks, Gärten und Alleen voller Pappeln, Platanen und Mimosen geschmückt und - so viel Sozialismus muss sein - mit einer ganzen Brigade heroischer Monumente ausstaffiert. Der Gipfel der Protzpathetik ist das Denkmal für Hayk mit Pfeil, Bogen und den Muskeln eines Bodybilders, den mythischen Urvater aller Armenier, der einst in Babel lebte und die Freiheit für sein Volk erstritt, indem er Babels König Bel auf der Hochebene des Ararats erschlug.
Wenn man tief in die Seele Eriwans blicken will, muss man hoch hinaufsteigen, zum höchsten Punkt der Kaskade, einer monumentalen Freitreppe im Herzen der Stadt. Hier sieht man alles: das sozialistische Pathos mit dem Obelisken, der zum fünfzigjährigen Jubiläum der Sowjetisierung Armeniens errichtet wurde, und die Kolossalstatue von Mutter Armenien mit Schwert und grimmigem Blick, die den Genossen Stalin vom Sockel gestoßen und sich statt seiner darauf gestellt hat; die Plattenbauten, schimmelfleckige Fanale des kommunistischen Scheiterns, die sich auf den Hügeln ringsum mit ebenso selbstgerechtem wie grundlosem Stolz in den Himmel recken, und die prunkvollen Wohntürme der Neureichen, diese oligarchischen Turmbauten zu Babel, die das Zentrum der Stadt usurpiert haben; die fünfstufige Kaskade aus weißem Travertin, die ein schwerreicher Diaspora-Armenier aus den Vereinigten Staaten instand gesetzt und mit seiner privaten Kunstsammlung bestückt hat - allein drei Boteros blasen hier die Backen auf -, und die fehlende fünfte Stufe, eine hässliche Baugrube, weil der reiche Onkel aus Amerika zu früh gestorben ist und der Staat notorisch klamm. Dann drehen wir uns um, blicken gleich hinter der Kaskade auf die palastartige Privatvilla eines Politikers, die einer Präsidentenresidenz würdig wäre, und fragen uns, warum die Armenier nach so viel fremd- nun auch noch dieses selbstverschuldete Unrecht ertragen.
Dubiose Herrschaften in Rolls-Royce-Limousinen
Es sind die selben Ungleichzeitigkeiten wie in so vielen ehemaligen Sowjetrepubliken, die uns in Eriwan verstören. Uns kommt die Stadt vor, als sei der Sozialismus einfach mit der Farbe des Kapitalismus übermalt und ansonsten alles beim Alten belassen worden. In Armenien habe anders als in Georgien niemals der Exorzismus einer Entsowjetisierung stattgefunden, wird uns später Ara Papian sagen, Historiker, Politologe, früherer Botschafter seines Landes in Kanada, ein Mann von klarem Verstand und klaren Worten. Stattdessen hätten zweihundert Familien das Land unter sich aufgeteilt und ein geschlossenes, hochkorruptes Oligarchensystem geschaffen. Sie machten gemeinsame Sache mit ihren russischen Freunden und fingen jetzt auch noch an, untereinander dynastisch zu heiraten, um ihre Macht zu zementieren. „Wir sind auf dem direkten Weg in den Feudalismus. Da ist es doch kein Wunder, dass vierzigtausend junge Armenier jedes Jahr ihre Heimat verlassen. Hier haben sie keine Chance, keine Perspektive, keine Hoffnung, hier sind die Felle längst verteilt. Ich sehe schwarz für mein Land“, sagt Papian mit einem Lächeln, dem man schmerzhaft ansieht, dass ihm nicht zum Lachen zumute ist.
Doch auch das ist eine der armenischen Ungleichzeitigkeiten: Von Ara Papians düsterer Prognose spürt man nichts, wenn man sich in Eriwan unters Volk mischt, den Kindern vor dem Opernhaus beim Herumflitzen in ihren Elektroautos zuschaut oder sich in eines der vielen Cafés setzt, um die Menschen an sich vorbei defilieren zu lassen. Die meisten sind gut gekleidet, gut gelaunt und machen vielleicht auch nur gute Miene zum bösen Spiel - wenn sie nicht selbst die Bösen sind, was uns bei einigen Herren in ihren Rolls-Royce-Limousinen und einigen Damen im hochhackigen, vollbusigen, totalblondierten Oligarchen-Kätzchen-Outfit möglich erscheint. Jedenfalls ist die Stimmung ausgesprochen gelöst, eher mediterran entspannt als orientalisch chaotisch, weit entfernt von postsozialistischer Tristesse oder der depressiven Hoffnungslosigkeit eines Despotenstaates.
Die Werkzeuge des Massakers
Und trotzdem ist hier etwas anders als in Europa, weil Armenien eben doch der Kaukasus und nicht die Côte d’Azur ist: Den Menschen fehlt die mediterrane Unbekümmertheit, sie wahren immer Distanz, sind manchmal sogar misstrauisch und kein bisschen neugierig auf die fremden Besucher. Vielleicht ist das ein postsozialistisches Erbe, eine Bürde, die sich in einer Generation nicht abschütteln lässt. Vielleicht liegt es daran, dass die Armenier viel stärker als jedes europäische Land in ihrem eigenen Saft schmoren, in der Falle sitzen, nichts als sich selbst haben - die Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan sind geschlossen, nur über Georgien und Iran kommt man auf dem Landweg heraus, und mit ihren Nachbarn haben sich die stolzen Armenier ohnehin noch nie vermischt. Vielleicht trägt aber auch die Geschichte dieses Landes die Schuld, in der alles Fremde immer feindlich, bedrohlich, tödlich war.
Ihr schwärzestes Kapitel ist in diesem Jahr im Stadtbild omnipräsent. Überall hängen Plakate, auf denen die Jahreszahl 1915 mit Beil, Muskete, Krummsäbel, Galgenstrick und der Anklage „Tools of Massacre“ dargestellt ist, oder solche, auf denen man einen stilisierten Fez mit Zwirbelbart auf der einen und einen karikierten Hitler mit Seitenscheitel und Schrumpfschnauzer auf der anderen Seite sieht - eine Anspielung auf den Satz des Tyrannen aus dem Jahr 1939, dass heute niemand mehr vom Völkermord an den Armeniern spreche und er also bei der Vernichtung der Juden freie Hand habe.
Enthauptete, Erschossene, Gehenkte, Gedemütigte
Für die Armenier ist das große Morden der Türken bis heute das große Trauma, diese monströse ethnische Säuberung mit ihren Pogromen, Massenhinrichtungen, Todesmärschen in die Wüste, denen vor hundert Jahren in der Osttürkei wahrscheinlich anderthalb Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Auf einem Hügel über der Stadt wird der Toten gedacht. Staats- und andere Ehrengäste haben hier einen Wald aus immergrünen Fichten als Symbol des immerwährenden Lebens gepflanzt, ganz jung ist noch das Bäumchen, das der französische Staatspräsident François Hollande im April zur Hundertjahrfeier des Genozids in die Erde setzte. Auf einer Gedenkmauer wird an die wenigen Aufrechten erinnert, die für die Armenier damals die Stimme erhoben, Fridtjof Nansen, Anatole France, Franz Werfel, kaum einer sonst. Zwölf Pylone aus grauem Granit bewachen wie schützende Hände die ewige Flamme, und gleich daneben wird im Völkermordmuseum das Grauen mit einer solchen Drastik und Schonungslosigkeit gezeigt, dass man gar nicht anders kann, als tiefste Scham und Wut angesichts der Unvorstellbarkeit dieser Verbrechen zu empfinden - und der Schande, sie heute noch zu leugnen. Man sieht nichts als Enthauptete, Erschossene, Gehenkte, Gedemütigte, Verhungerte, Verzweifelte und immer wieder, immer, immer wieder Kinderleichen, gefoltert, erschlagen, verdurstet, verstümmelt, bis man es kaum mehr erträgt.
Wir verlassen dieses Museum mit Tränen in den Augen und fragen uns, wie die Armenier nach dieser Apokalypse nicht von Gott abfallen konnten. Doch genau das Gegenteil geschah, ihr Glaube ist fester denn je und nirgendwo so greifbar wie in Edschmiatsin vor den Toren Eriwans, dem Vatikan der Armenisch-Apostolischen Kirche, jenem Ort, zu dem „der eingeborene Sohn hinabgestiegen ist“, so lautet die Übersetzung seines Namens. Sein Vater höchstpersönlich soll mit dem Schlag eines goldenen Hammers Gregor dem Erleuchter bedeutet haben, wo er die erste Kirche der armenischen Christenheit zu erbauen habe. Doch Edschmiatsin ist keine archäologische, sondern eine erstaunlich moderne Stätte, die sich zum tausendsiebenhundertjährigem Jubiläum der Staatskirche im Jahr 2001 dank der Großzügigkeit der Diaspora-Armenier eine ganze Riege prachtvoller Gotteshäuser und Seminarien spendiert hat. Die Kathedrale selbst ist hingegen von schlichter Andacht, Steinreliefs mit sechsflügeligen Engeln sind fast ihr einziger Schmuck, aber nicht ihr einziger Schatz. Denn hier wird eine Reliquie verwahrt, die zeigt, wie wortwörtlich die Armenier Gottes Wort nehmen: das Bruchstück einer Planke von Noahs Arche, die nach der Sintflut auf dem Gipfel des Ararats strandete.
Die Lanze des Legionärs Longinus
Für Ungläubige sieht das Holzstückchen nicht anders aus als Treibgut, wenn auch kostbar eingefasst in Gold. Die Armenier hingegen lassen keinen Zweifel daran, dass ihr Land ein Land der Gläubigen ist. Klöster und Kirchen, Kapellen und Kreuze sind unsere zuverlässigsten Begleiter bei der Fahrt durch den Kaukasus und unsere sichtbarsten, wie jenes Monumentalkruzifix am Fuß des Aragaz, Armeniens höchstem Berg seit dem Verlust des Ararats. Aus 1714 einzelnen Eisenkreuzen ist es aufgetürmt, weil Armenien seit so vielen Jahren christlich ist, und jedes Jahr kommt bis in alle Ewigkeit ein neues hinzu. So geht das im ganzen Land: Die exponiertesten Orte sind immer den Stätten des Glaubens vorbehalten, so wie das tuffsteinerne Amphitheater bei Geghard, in dem Mönche im vierten Jahrhundert eine heilige Quelle entdeckten und rund um das Rinnsal das Kloster der heiligen Lanze erbauten, weil sie sich sicher waren, im Besitz der Lanze des Legionärs Longinus zu sein. Dieser einäugige Soldat war es, der Christus am Kreuz seinen Speer in die Rippen rammte, um sich von dessen Tod zu überzeugen, woraufhin ein Tropfen Blut sein blindes Auge benetzte und er geheilt und bekehrt und gerettet war.
Überall im Kloster sieht man das Lanzenmotiv in Stein gehauen, umrankt von Weinreben und Granatäpfeln, den Symbolen für das Paradies und für Armenien, gekrönt von Stieren, Löwen und Adlern als Zeichen der Stärke und Wehrhaftigkeit, umflattert von Tauben, den Abgesandten des Heiligen Geistes. Überall sieht man Gläubige, die sich heiliges Wasser abzapfen, mit drei zusammengeführten Fingern bekreuzigen, um die heilige Dreifaltigkeit zu ehren, und die Klosterkirchen immer rückwärts verlassen, weil es respektlos wäre, der Muttergottes am Altar den Rücken zuzuwenden. Die Kinder lassen sich währenddessen feixend den Sonnenstrahl ins Gesicht fallen, der in der Hauptkirche wie ein göttlicher Fingerzeig durch eine Öffnung an der Kreuzkuppel auf den Boden fällt, milde belächelt von den Erwachsenen, denn die Gläubigkeit mag hier inbrünstig sein, fanatisch wirkt sie nie.
Kaukasische Bukolik mit Aprikose und Autowrack
Am Sewan-See wiederum, einem der größten Hochgebirgsseen der Welt, thront hoch über dem Ufer der schönste Friedhof des ganzen Landes. Hunderte von tausendjährigen, moosbewachsenen Kreuz- und Grabsteinen stehen im Gras, manche so klein wie ein Schuhkarton, andere so mächtig wie der Katafalk eines Kaisers und viele von ihnen kunstvoll behauen mit Szenen aus dem Leben der Toten, mit Bauern beim Pflügen, Freunden beim Zechen, Frauen beim Brotbacken. Die Gärtner sind hier die Schafe, die Friedhofswärter ein paar alte Mütterchen, die Socken für die Touristen stricken, und die stummen Wächter dieses Panoramafriedhofes mit Seeblick eine Kette schneebedeckter Vulkane, die zum Glück niemandem mehr grollen in diesem Land der ruhelosen Erde.
Ihr bebender Zorn hat in niederträchtiger Eintracht mit den Invasoren und Okkupatoren fast alles vernichtet, was sich die Armenier in Jahrtausenden aufgebaut haben, außer den Gotteshäusern, die sie in biblischer Mühsal immer wieder neu errichteten. So ist eine eigenartige, kaukasische Bukolik entstanden, die oft wie ein Wirklichkeit gewordenes Bilderbuch wirkt. Am Straßenrand verkaufen die Menschen all die leuchtenden Schätze, die auf ihren vulkanischen Feldern wie im Schlaraffenland gedeihen, Feigen, Pfirsiche, Melonen, Granatäpfel, Kornelkirschen und die besten aller Aprikosen, dazu Waldpilze, Ampferzöpfe und selbst gekelterten Wein, für die iranische Kundschaft in Coca-Cola-Flaschen abgefüllt, um sie leichter an den Sittenwächtern vorbei schmuggeln zu können. Doch so pittoresk das alles sein mag, so lieblos, so achtlos zusammengezimmert wirken die Dörfer der Bauern. Ihre Gartenzwerge sind Autowracks, ihr Lieblingsbaumaterial ist PVC, aber es wäre Hochmut, ihnen das vorzuwerfen. Denn spätestens nach jeder dritten Generation macht ein Erdbeben ohnehin Tabula rasa in Armenien, so wie zuletzt 1988, als jeder dritte Armenier nach der Katastrophe von Spitak obdachlos war.
Gottes zwinkernde Augen
Dort, wo die Erde ihre Fruchtbarkeit verliert, ist Armenien ein Land der schroffen Berge, dunklen Wälder, schwindelerregenden Schluchten, wilder, ungezähmter Kaukasus, ganz selten verunstaltet von gigantischen, gespenstischen, sowjetischen Industrieruinen. Oder aber es wird baumlos kahl, so wie am Vardenyats-Pass, nackt und doch verschwenderisch verziert mit bunten Bergwiesen voller Thymian, Salbei, Minze, Mohn, Sanddorn, Rittersporn, ein Teppich, gewebt von einer Natur im Farbenrausch als Abbitte für ihren eigenen Geiz. Kurz unterhalb der Passhöhe duckt sich ein seltsames Gebäude in den Berg, eine langgestreckte Lagerhalle in Form einer dreischiffigen Basilika, die so gar nicht zur Einsamkeit dieses Passes passen will - und das Relikt aus einer Zeit ist, als Armenien längst nicht so isoliert war wie heute, ein weiterer Beweis dafür, wie viel Geschichte unter jedem Stein dieses Landes steckt. Es ist eine Karawanserei aus dem vierzehnten Jahrhundert, ein Erbstück der Seidenstraße, deren nördliche Route zum Schwarzen Meer einst durch Armenien führte.
Nicht weit vom Vardenyats-Pass entfernt sehen wir dann Gott in die Augen. Er wohnt im Kloster Norawank, das tollkühn über einer Schlucht auf einem Felsvorsprung balanciert, ganz hinten im Tal, ganz nah dem Himmel, die Grablege der Orbelian-Dynastie, ein Ort der Endgültigkeit in jeder Hinsicht. Der berühmte Baumeister, Steinmetz und Miniaturmaler Momik hat hier zwei Grabkirchen mit Trommelkuppeln und Kegeldächern von solch vollkommenen Proportionen geschaffen, von einer solchen Eleganz aus Schlankheit und Wucht, Gravität und Leichtigkeit, dass sie auch nach siebenhundert Jahren noch frisch wie am ersten Tag wirken. Und im Tympanon schaut uns Gott an, als rauschebärtige, wuschelköpfige, pausbäckige Reliefbüste, mit der Rechten Christus am Kreuz segnend, mit der Linken den Kopf Adams haltend, um ihm den Lebensgeist einzuhauchen, und mit seinem durchdringenden Blick den unseren bannend. So bar jeden Zweifels hat ihn Momik in Stein gemeißelt, so voller felsenfestem Glauben einen endgültigen, für jeden sichtbaren Gottesbeweis geschaffen, dass hier auch der größte Ketzer gar nicht anders kann, als sich kurzzeitig selbst ins Gebet zu nehmen. Und als wir uns umdrehen, kommt es uns vor, als zwinkere uns jemand zu. Aber das kann ja gar nicht sein.